AUF EIN WORT ...

Autopsie einer Sammlung: Die Anatomie des Dr. Tulp nach Rembrandt

1632 gelang Rembrandt mit seinem ersten Gruppenbildnis ein fulminanter Auftritt, mit dem er sich durch die geschickte Verknüpfung von Erzählung und Bildnis beim Amsterdamer Bürgertum empfahl. So zeigt denn das Gemälde den berühmten Doktor Nicolaes Tulp, der im Kreise seiner gelehrten Freunde eine Obduktion am Leichnam des zum Tode durch den Strick verurteilten Verbrechers Namens Adriaen Adriaensz. vornimmt. Dass er sich dabei nicht wie üblich erst der Öffnung der Bauchhöhle, sondern der komplizierten Sektion der Arm- und Handmuskulatur widmet, verweist auf den berühmten niederländischen Anatom Andreas Vesalius, der die Trennung zwischen 'praelector‘ und ausführendem Anatom zu überwinden verstand, also gleichzeitig obduzierte sowie dozierte, und der zudem die besondere Bedeutung der Hand betonte, die er als 'primarium medicinae instrumentum‘ bezeichnete.
Rembrandt gelingt es durch ein dichtes Bezugssystem aus Blick- und Bewegungsrichtungen sowie durch Licht- und Schattenmodulationen, gleichermaßen den Mediziner, die von ihm vertretende Methode und vor allem seine Handfertigkeiten anschaulich in Szene zu setzten. Während die rechte Hand die Ausführende ist, ist die Linke nicht nur im Redegestus gehalten, sondern führt, analog zur Demonstration am Sehnen- und Bandapparat der freigelegten Hand, den Beugungsmechanismus der Finger vor. Damit haben Rembrandt und Dr. Tulp ein bildliches Lehrstück geschaffen, in dem sich Vesalius Ideal, nämlich den menschlichen Körper von innen und außen, in Ruhe und Bewegung zu betrachten sowie darzustellen, auf das eindrücklichste vereint.
Warum nun aber lässt ein Künstler und Sammler, nämlich Franz Reiff, der zudem als Professor für Figuren- und Landschaftszeichnen an der TH Aachen tätig war, Ende des 19. Jahrhunderts eine Kopie von eben diesem Bild anfertigen? Dass sich die Beantwortung der Frage dabei nicht auf Rembrandt als Künstler fokussieren kann, lässt sich daran festmachen, dass speziell für Aachen weitere Kopien seiner Gemälde angefertigt wurden. Diese entstammen ausnahmslos den Gemäldesammlungen Alter Meister in Kassel, Dresden und München – den drei von Reiff aufgrund ihrer Sammlungsschwerpunkte bevorzugten Galerien. Für die Kopie der 'Anatomiestunde des Dr. Tulp‘ wurde jedoch eigens ein Berufskopist beauftragte, der in Den Haag um Erlaubnis anfragen und vorstellig werden musste, womit ein erheblicher zeitlicher und finanzieller Aufwand verbunden war.
Die sich hierin offenbarende Begehrlichkeit zirkuliert indes nicht um die übergeordneten medizingeschichtlichen Aspekte, sondern manifestiert sich vornehmlich an der besonderen Darstellung und Prominenz der Hand. Seit dem 15., verstärkt dann im 16. Jahrhundert hatten die Künstler eine Nobilitierung der Hand sowie die Vergeistigung des 'Hand‘-werks gefordert, um die Hand als Werkzeug des Geistes respektive als Instrument, welches den geistigen Entwurf des Künstlers sichtbar macht, in den Fokus zu rücken. So beanspruchte zum Beispiel Albrecht Dürer nicht nur den schöpferischen Geist für sich, sondern auch die Handfertigkeit, diesen sichtbar werden zu lassen. Selbstredend unterstützten die neu gewonnenen naturwissenschaftlichen Gesichtspunkte, welche die hochkomplexe Mechanik der Hand offen legten, diesen Prozess.
Weitere Beispiele ließen sich mühelos anführen. Wichtiger erscheint jedoch, dass Reiff sich dieser Tradition verpflichtet sah, verstärkt sehen musste, da er es als oberste Prämisse verstand, sich als Künstler in der Phase der technischen Reproduzierbarkeit von Kunst zu behaupten. So spielte das Anfertigen von Originalkopien, die von Künstlerhand hergestellt wurden und neben Komposition, Licht und Farbe auch den Duktus bzw. die Manier erkennbar werden ließen, für Reiff als Maler und für die Ausrichtung seiner Sammlung eine zentrale Rolle.
Zudem sah Franz Reiff in dem Rembrandt-Gemälde vermutlich seine eigenen Ideale versinnbildlicht, nämlich die von ihm proklamierte Einheit von Theorie und Praxis in der Lehre. Als Besonderheit darf gelten, das Reiff, der mit seinen Werken das Entree der Sammlung bespielte, seine Fertigkeiten in die vermeintliche Opposition von zeitgenössischer Kunst und Alten Meistern einzuflechten verstand – sozusagen als raumbezogenes Gruppenbild mit einer Persönlichkeit im Mittelpunkt, die Künstler, Sammler und Lehrer zugleich verkörperte.

Dr. Martina Dlugaiczyk

IMPRESSUM: REIFF-MUSEUM